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In 1998: The Toll Keeper Story erleben wir als schwangere Angestellte in einem Mauthäuschen eine fiktionalisierte Version der gewaltsamen Unruhen in Indonesien.
Es ist Ende April 1998 und Unruhen machen sich im fiktiven Land Janapa breit, nachdem es zu Massenentlassungen kommt und die Inflation und damit die Lebenserhaltungskosten ins Unermessliche steigen. Die Bevölkerung, insbesondere die Studentinnen und Studenten, begehrt in der Hauptstadt Metro City auf und ihre Proteste werden gewaltsam niedergeschlagen. Das junge Pärchen Dewi und Heru erwartet ihr erstes Kind. Dewi versucht im Mauthäuschen am Stadtrand von Metro City genug Geld zusammen zu bekommen, um die Kosten für eine gesunde Geburt bezahlen zu können, während ihr Ehemann Demonstranten in die Stadt schleußt, um der Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen.
Das Spiel wurde von dem im indonesischen Tangerang ansäßigen GameChanger Studio entwickelt und basiert auf den Unruhen in Indonesien im Mai 1998 (auch Peristiwa 98 genannt), denen mehr als 1.000 Menschen zum Opfer fielen. Die Geschichte wird in Form von Zeitungsartikeln vorangetrieben und sie zeigen die Gewaltspirale und wie der Staatsapparat versucht, die Ereignisse herunterzuspielen. Durch unsere Arbeit als Mautangestellte können wir die Ereignisse bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Jede Schicht ist gleich lang, doch die Aufgaben werden immer vielfältiger. Während wir zu Beginn lediglich die richtige Fahrzeugklasse ermitteln, ab und zu unsere selbst benennbare Katze streicheln, der Hand voll Lieder im Radio lauschen und das entsprechende Entgelt erheben, wird das Regime immer restriktiver. So werden wir bald dazu angehalten, kleine Fahrzeuge mit Demonstranten abzuweisen und Bußgelder für Schmuggelware (zum Entdecken von Schuss-, Stich- und Explosivwaffen verwenden wir einen Metalldetektor), Gewichtsüberschreitungen, Ungereimtheiten in den Papieren, abgenutzte oder fehlerhafte Kennzeichen zu erheben. Entdecken wir Falschgeld mit der UV-Lampe ist eine Geldbuße nicht ausreichend und wir sind dazu verpflichtet, die Polizei zu rufen.
Wir bedienen das Interface mit der Maus, eine offizielle Controller-Unterstützung gibt es nicht. Während die Bedienung der Kasse recht intuitiv ist und gegen das entsprechende Entgelt um eine hilfreiche Wechselgeld-Anzeige und einen eher überflüssigen Taschenrechner ergänzt werden können, erfordern die täglich hinzukommenden zusätzlichen Restriktionen weitere Untermenüs, etwa um die Gewichtstabelle zu prüfen oder die Dokumente einzusehen. Zwar können wir zumindest die Kassenanzeige durchlässig schalten, um das Kennzeichen zu prüfen, insgesamt wirkt das Menüdesign aber zu verschachtelt und es könnten gerne noch einige Komfortfunktionen hinzukommen.
Für eine reibungslose Geburt sollen wir Geld für einen Kaiserschnitt, Vitamine und Milch sammeln. Durch den Verkauf von Flyern für das Regime oder für die Proteste können wir uns etwas dazuverdienen. Dabei sollten wir der Ehefrau eines Funktionärs in dem autoritären Regime besser keinen Flyer für die Studentenbewegung aushändigen, wenn sie uns nicht bei ihrem Gatten anschwärzen soll. Andererseits können wir unser Einkommen auch dafür verwenden, Hilfsbedürftigen zu helfen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten oder zu fliehen. Lassen wir den Kapitän des Fußballvereins Metro FC etwa regelkonform abblitzen, weil er nicht die Maut zahlen kann, wird in der Zeitung am darauffolgenden Tag über die Niederlage der Mannschaft berichtet. Übersehen wir etwas – egal ob absichtlich oder nicht -, wird uns das direkt vom Lohn abgezogen. Da die Miete auch noch steigt, müssen wir unser Einkommen gut verwalten und das Spiel stellt uns vor einige knifflige moralische Entscheidungen.
Mit einigen Charakteren führt Dewi automatisch ab und an ein Pläuschchen, etwa mit ihre besten Freundin Sinta, deren dramatische Geschichte in kurzen Visual Novel-Sequenzen erzählt wird. Ein schöner Funken Hoffnung in dem düsteren Setting: Trotz unterschiedlicher Religionen und Kulturen gehen die beiden durch Dick und Dünn, was Dewi in ihrem Tagebuch festhält. Hier können wir auch selbst ein paar Sticker einkleben, doch recht viel Einfluss haben wir nicht darauf. Die Dialoge im Mauthäuschen können wir im Automatismus der Mautabfertigung verpassen oder versehentlich überspringen. Das ist schade um die schön geschriebenen Dialoge und auch hier bedarf es etwas Anpassung des Interfaces, um diese nicht zu verpassen. Im Laufe des Spiels verändert sich die Welt um uns herum zusehends. Stacheldrahtzäune erscheinen, Protestparolen werden auf Wände und Schranke geschmiert und die Stadt vermüllt immer mehr. Das Geschehen wird detailliert in einem gelungenen gezeichneten Look dargestellt, von passender Musik untermalt und mit stimmigen Soundeffekten versehen. Aufgrund der Platzhalter im Cutscene-Replay-Theater gehen wir davon aus, dass es mindestens vier unterschiedliche Enden gibt. Um nach circa drei Spielstunden das gute Ende zu erreichen reicht es aus, ausgewogene Entscheidungen im Sinne der Familie und der Gesellschaft zu treffen. Das Spiel ist seit dem 28. Oktober für 11,79 Euro mit einem zeitlich begrenzten 18-prozentigen Veröffentlichungsrabatt auf Steam für PC in englischer und indonesischer Sprache verfügbar.
Fazit
1998: The Toll Keeper Story erzählt die emotionale Geschichte einer schwangeren Mutter inspiriert von den wahren Ereignissen während Peristiwa 98 in Indonesien. Das Spiel stellt uns vor interessante moralische Entscheidungen und das nicht in drögen Textboxen, sondern direkt in der Spielmechanik. Legen wir noch 20 Rb drauf oder lassen wir den Bus voller Demonstrantinnen und Demonstranten wieder abdüsen? Doch haben wir am Ende der Woche genügend Geld für die Miete? Warum sollen wir eigentlich nur Pkws mit Protestierenden abweisen und keine größeren Fahrzeuge? Wie behandeln wir unseren eigenen Partner, wenn er sich der Bewegung anschließt? Und wann wird endlich unser unheimlicher Vorgesetzter zur Rechenschaft gezogen, der uns in den zahlreichen Anweisungen ständig belästigt? Die repressiven Maßnahmen des Regimes gegen die eigene Bevölkerung wirken willkürlich und es bleibt uns überlassen, welche Regeln wir wann durchsetzen können und wollen. Die Folgen unseres Handelns lesen wir nicht nur in der Zeitung, sie fahren täglich an unserer Schranke vor. Das verschachtelte Menüdesign kann noch etwas verbessert werden, um das Spielerlebnis etwas abzurunden und um keine der Dialoge unbeabsichtigt zu überspringen. Gerne hätten wir auch noch mehr Zeit mit den einzelnen Figuren verbracht, um mehr über sie zu erfahren als in den kurzen Gesprächen am Mauthäuschen und in den knappen Visual Novel-Szenen zwischen den Arbeitstagen. Denjenigen, die gerne Spiele wie Papers, Please oder Not Tonight spielen, können wir 1998: The Toll Keeper Story wärmstens empfehlen.
GameChanger Studio hat uns die PC-Version von 1998: The Toll Keeper Story zur Verfügung gestellt, mit der wir die Screenshots erzeugt haben.











