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In The Berlin Apartment durchleben wir in mehreren Epochen unterschiedliche Schicksale – allesamt in der gleichen Wohnung.
The Berlin Apartment wurde von Blue Backpack Games entwickelt, die früher unter dem Namen btf Games als Videospiel-Abteilung der bildundtonfabrik in Köln aufgetreten sind und etwa Constance, Trüberbrook und die Versoftungen der ehemaligen TV-Sendung Neo Magazin Royale produziert haben. Das Spiel wurde am 17. November auf Steam für PC, PlayStation 5 und Xbox Series X|S zum Preis von 24,50 Euro von btf, ByteRockers‘ Games und PARCO Games veröffentlicht.
2020 – Spurensuche
Es ist das Jahr 2020 und die Zweitklässlerin Dilara (Nico May Glaser) hilft ihrem Vater Malik (Tayfun Bademsoy) bei der Renovierung einer riesigen Berliner Altbauwohnung. Beim Abreißen der Tapeten und Abschlagen der Fließen finden die beiden Überbleibsel vergangener Tage und kreieren Geschichten aus unterschiedlichen Epochen – aus 1933, 1945, 1967 und 1989 – ähnlich wie in Robert Zemeckis Film Here aus dem vergangenen Jahr. Jedes Kapitel ist dabei in sich abgeschlossen, findige Spielende finden aber auch Verbindungen zwischen den Zeitebenen und den Mieterinnen und Mietern. Die Hauptgeschichte mitten in der Corona-Pandemie ist etwas dünn, auch wenn wir dem sympathischen Vater-Tochter-Duo gerne zuhören. Es wird lediglich kurz angerissen, dass wegen der Schutzmaßnahmen derzeit kein Unterricht in Präsenz stattfindet und wir können ein Testzentrum in der Nachbarschaft erspähen, doch recht viel mehr gibt es nicht zu diesem Thema. Das Hauptaugenmerk liegt klar auf den anderen Epochen, in die wir nach und nach in nicht-chronologischer Abfolge eintauchen.
1933 – Der Koffer
Josef Liebermann (Karsten Troyke) entscheidet sich nach 25 Jahren des tristen Bürojobs, der an den Anfang von KARMA: The Dark World erinnert, das Minerva Lichtspiele-Kino zu eröffnen, um damit Menschen mit all ihren Sorgen und Nöten nach dem Börsencrash am Schwarzen Freitag 1927 eine Zuflucht mit guter Unterhaltung zu bieten. Mit dem steigenden Einfluss der Nazis sind Juden und Jüdinnen wie er im Jahr 1933, in dem wir die Wohnung betreten, immer stärkeren Repressalien ausgesetzt bis hin zur Verfolgung und späteren systematischen Vernichtung. Während wir in seiner Berliner Wohnung mit seelischer Unterstützung von Esther (Sharon Brauner) einerseits seinen Koffer packen – denn er will versuchen nach Frankreich zu flüchten -, erleben wir den Aufbau und die Zerstörung seines Kinos in authentisch inszenierten Stummfilm-Sequenzen.
Wir lauschen ihm dabei wie er über Filmklassiker wie Im Westen Nichts Neues und Metropolis oder literarische Werke wie Franz Kafkas Der Process fabuliert, müssen wir flink sein, um möglichst viele seiner Habseligkeiten wie seinen Glücksschuhen, einer Taschenuhr und seinem Tagebuch mitzunehmen und in einem Tetris-artigen Minispiel platzsparend einzuordnen. Die packende Inszenierung und die großartige Vertonung, die in diesem Kapitel wie im Großteil der Rollen sowohl im Deutschen als auch im Englischen von den gleichen Synchronsprecherinnen und Synchronsprechern eingesprochen wurden, übertragen die Brisanz der Situation auf den Spieler bzw. die Spielerin.
1945 – Stille Nacht
In einem weiteren Kapitel ist es Heiligabend und die kleine Mathilda (Yuna Bennett) schmückt den Baum und noch gleich die gesamte Wohnung mit – oder was noch davon übrig ist, denn wir schreiben den 24. Dezember 1945. Wo früher einmal Fenster gewesen sein könnten, pfeift der Wind durch einen notdürftigen Bretterverschlag. Mathildas Bruder Lukas (Sam Graffam) redet nicht mehr und ihre Mutter Magda (Jessica Leinen) legt als Trümmerfrau den Grundstein für die spätere Berliner Mauer. Sie klagt davon, dass sie am Bahnhof Gesundbrunnen statt Vorräten von den Russen nur Gelächter erhält. Nachdem Mathilda das Jesukind in der Krippe platziert und Kerzen aufgestellt haben und dem Raum dadurch immer mehr in warmes Licht hüllen, möchte Mathilda im abgeschlossenen Nebenraum nach weiterer Deko suchen – hierfür muss sie zunächst eine gut gefütterte Winterjacke anziehen.
Die Außenwand der Wohnung wurde im Krieg komplett zerstört und vor dem Panorama des völlig zerstörten Berlins wühlt sich Mathilda durch Schutt, entdeckt zeitgenössische Haussegen, Telefon- und Liederbücher und sie findet nicht nur Schmuck für den Weihnachtsbaum, sondern auch mehr über ihren verschollenen Vater heraus, offenbar einem hochrangigen Funktionsträger des NS-Regimes. Unter dem Klagen ihrer Mutter kann Mathilda den Baum mit alten Soljanka-Dosen, Patronenhülsen, einem Auszug aus einer berühmten Rede Otto von Bismarcks aus dem Jahr 1888, einem Besteckservice aus einer Schachtel mit Nazi-Symbolik oder den Orden ihres Vaters schmücken. Am Festtagstisch konfrontiert sie ihre Mutter und fragt sie, ob sie die Bösen sind – oder sie hält die Klappe, was Magda ganz genehm wäre. Ihr habt die Wahl, doch die Dialoge werden davon nicht maßgeblich beeinflusst. Bis zu einer Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels und dem Entstehen einer Erinnerungskultur werden noch Jahrzehnte vergehen. Das Geschehen wird von einem immer voluminöserem Klangteppich orchestraler Musik untermalt, der im Zusammenspiel mit der Präsentation eine ganz eigene Stimmung mit sich bringt.
1967 – Störsignale aus dem Orbit
Im Jahr 1967 versucht die Autorin Antonia „Toni“ Zielinski unter dem massiven Druck der DDR-Hauptverwaltung einen Science-Fiction-Roman zu schreiben. Das Geschehen geht nahtlos aus Tonis stilvoll und zeitgenössisch eingerichteten Wohnung in die Raumstation über und unsere Skript-Entscheidungen werden vor unseren Augen visualisiert. So sehen wir nicht nur den blau oder rot eingefärbten Jupiter oder Saturn, es wird auch eindrücklich visualisiert wie der Staatsapparat Tonis Buch zu Propagandazwecken versucht komplett auszuhöhlen. Nettes Detail: Zum Fortschreiben der Geschichte müssen wir selbst tippen, um Tonis Schreibmaschine zu simulieren. Es entspinnt sich eine packend erzählte Geschichte über Kunstfreiheit und eine spannende Vater-Tochter-Dynamik. Das Zusammenspiel zwischen Claudia Eisinger als kecke Toni und Uwe Preuss als kompromisslosen Bürokraten der Hauptverwaltung hält uns in diesem Kapitel bei der Stange. Im Englischen fehlt hier, ähnlich wie im 89er-Kapitel, die Berliner Dialektik, auch wenn die Rollen von Giselle Mapp und Harvey Friedmann nicht weniger eindrucksvoll vertont wurden.
1989 – Soljanka verleiht dir Flügel
Kurz vor der Wende lernen sich mit dem Botaniker Kolja (Kim Hasper/Tomas Sinclair Spencer) im Osten und Lu (Derya Akyol) im Westen zwei direkt an der Mauer lebenden Menschen kennen. Wir basteln Papierflieger und werfen sie über die Mauer auf den Balkon eines anderen Mehrfamilienhauses, was durch widrige Witterungsbedingungen immer kniffliger wird. Gerade die kurzen Gespräche mit dem sarkastischen Goldfisch Erich (Asad Schwarz-Msesilamba), der im Ur-Berliner-Dialekt spricht, und seine süffisanten Kommentare sind genauso unterhaltsam wie Koljas Gespräche mit seinen Pflanzen.
Schön ist auch, wie die Figuren in den unterschiedlichen Epochen auch eine andere Ausdrucksweise pflegen. Das Falten der Papierflieger erledigen wir über Gestensteuerung, was mit einem Controller etwas intuitiver funktioniert als mit einer Maus. Am PC werden sowohl Xbox- als auch PlayStation-Aktionssymbole unterstützt.
Nach der rund dreistündigen Spielzeit dürfen wir auch in jedes Kapitel noch einmal springen, um zu erleben wie unsere Entscheidungen die Geschichte beeinflussen. In technischer Hinsicht können wir im Sci-Fi-Kapitel anno 1967 einige Einbrüche der Bildrate feststellen, die von den Entwickelnden noch eingegangen werden sollten. Sobald die Teetassen schwerelos durch den Altbau schweben sinkt die Framerate merklich ab und selbst eine potente Grafikkarte wie die GeForce RTX 4070 kommt ins Straucheln unter 60 Bilder pro Sekunde in 4K, da sie plötzlich deutlich weniger Strom nimmt als in den anderen Kapiteln.
Fazit
The Berlin Apartment ist ein gelungenes Slice-of-Life-Adventure mit authentischen Dialogen, nahbaren Charakteren und einer packenden Erzählweise. Das Spiel versetzt die Spielenden in besondere Situationen, gibt einen Einblick in die bewegten Schicksale in Berlins schillernde Vergangenheit und regt zum Nachdenken an. Es ist bemerkenswert, wie das Spiel trotz der ernsten Thematiken wie Krieg, Verfolgung und Bürgerrechtsbeschränkungen auch mit Charme und Humor überzeugt. The Berlin Apartment belohnt auch Erkundungsfreudige mit vielen kleinen Details, auch wenn es linear erzählt wird.
Gerade der sowohl im Deutschen wie im Englischen großartigen Synchronisation gebührt ein besonderes Lob. Entscheidungen und die Interaktivität mit der Umgebung lockern das dialogträchtige Geschehen auf. Aufgrund seiner kurzen Spielzeit bleibt es auch nur bei einem Einblick in diese unterschiedlichen Schicksale und so kommen manche Figuren wie etwa das Vater-Tochter-Gespann in der Gegenwart zu kurz. Wir können The Berlin Apartment denjenigen bedenkenlos empfehlen, die an Geschichte interessiert sind und gerne packende narrative Abenteuer erleben.
The Berlin Apartment wurde uns von Blue Backpack Games für den PC zur Verfügung gestellt. Mit dieser Version haben wir die Screenshots erstellt.

















