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Test

Im Test: Life Is Strange 2 – Episode 1 “Roads”

Über drei Jahre nach dem Erstling tritt Life Is Strange 2 in große Fußstapfen. Ob uns die erste Folge so nahe geht wie das erste LIS, erfahrt ihr in unserem Test.

Life Is Strange wurde vom französischen Entwicklerstudio Dontnod Entertainment entwickelt und ist im Januar 2015 erschienen. Es erzählte die Geschichte von Max Caulfield, einer im Jahr 2013 in der fiktiven Stadt Arcadia Bay im US-Bundesstaat Oregon lebenden 18-jährigen Schülerin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Life Is Strange: Before The Storm (E3 2017-Vorschau) stammte von der US-Spieleschmiede Deck Nine Games und erschien im August 2017. Es setzte drei Jahre zuvor an und ließ uns in die Rolle von Max’ bester blauhaarigen Freundin Chloe Price schlüpfen. Mit der Entwicklung des seit Juni dieses Jahres kostenfrei erhältlichen The Awesome Adventures of Captain Spirit (Video) ging das Zepter wieder an Dontnod über. In dem im Jahr 2016 angesiedelten Adventure übernehmen wir die Rolle eines 9-jährigen blonden Jungens, der in seiner Fantasie als Superheld verschiedene Welten bereist und darin versucht seine erlittenen Traumata zu verarbeiten. Die erste Folge von Life Is Strange 2 erscheint heute für PlayStation 4, Xbox One und PC, unser Test basiert auf der Xbox One X-Version.

Story

Life Is Strange 2 beginnt, wie das vermeintliche Prequel The Awesome Adventures of Captain Spirit, im Jahr 2016. Weitere wirkliche Verbindungen zum gratis Adventure haben wir in der ersten Episode, die mit “Roads” (“Straßen”) untertitelt wurde, nicht ausmachen können. Wir tauchen in das Familienleben der Diaz-Familie, die in einem kleinen Haus in Seattle im US-Bundesstaat Washington wohnt, ab. In der Rolle des 16-jährigen Daniel stehen wir bereits vor der ersten Entscheidung des Spiels, und dafür ist die Serie doch bekannt. Die Wahl muss sicher wohl überlegt sein. Wir müssen entscheiden, ob wir den letzten Schokoriegel unserem jüngeren Bruder geben, dem hart schuftenden Vater Esteban überlassen und einfach selbst wegessen. Kaum zu glauben, aber diese Entscheidung wird im Verlauf der ersten Episode noch einmal thematisiert werden.

Das relativ fröhliche Familienleben der Diaz-Familie erlebt einen herben Schicksalsschlag und fortan befinden sich die beiden Brüder auf der Flucht vor den Ordnungswächtern. Episode 1 ist ein Road Trip entlang der Westküste der USA. Während Sean nicht glauben kann, was im Vorgarten ihres Hauses geschehen ist, verdrängt der junge Daniel die Ereignisse. Life Is Strange 2 zeichnet dreidimensionale Charaktere, die sich – im Falle der Diaz-Brüder – in einer Ausnahmesituation befinden. Die beiden stehen vor der Sorge, wo sie Unterschlupf finden und wie sie an etwas zu essen kommen. Trotzdem bricht Dontnod die verzweifelte Situation immer wieder durch liebevolle Szenen der Gebrüder auf, etwa wenn Sean Daniel Steinehüpfen am Fluss beibringt oder die beiden sich unter deinem Felsvorsprung ein Versteck vor den lokalen Orks bauen – LIS 2 bietet so einige unterhaltsam umgesetzte popkulturelle Referenzen.

Bei dem Familienunglück ist, wie man es für einen echten Nachfolger zu Life Is Strange 2, die Superkraft eines Charakters im Spiel. Es ist schön, dass das Spiel nicht direkt mit der Tür ins Haus fällt und uns erstmal verschweigt, wer die Kraft besitzt und wie sie funktioniert. Im Laufe der Episode erleben wir diese Gabe weiter unkontrolliert in Aktion und werden dezent an Stranger Things erinnert. Apropos Referenzen: Life Is Strange 2 offenbart im Verlauf der ersten Episode Verbindungen zum ersten Teil. Doch wie sich diese äußern, solltet ihr besser selbst herausfinden.

Die Geschichte der beiden Brüder ist interessant geschrieben und mit vielen interessanten Zwischenfällen und Wendungen gespickt, sodass die Folge im Nu zu Ende war. Wie im ersten Teil nimmt sich Dontnod viel Zeit für seine Charaktere und bietet neben actiongeladenen Ereignissen auch ruhige Augenblicke. Wie Max in Arcadia Bay finden auch Sean und Daniel Zeit über euren Befehl auf Bänken, Sofas und Baumstämmen Platz zu nehmen, einen Moment inne zu halten und das Geschehene zu besprechen bzw. vor dem inneren Auge Revue passieren zu lassen. In solchen Szenen schafft es das Spiel mit dem Einsatz passender Musik eine solch dichte Stimmung zu generieren, dass man selbst sinniert bzw. die Augen ein wenig wässrig werden.

Gameplay

The Awesome Adventures of Captain Spirit bot viele spielerische Freiräume und förderte eure Entdeckerlust. Life Is Strange 2 schlägt in eine ähnliche Kerbe. Das Haus der Diaz-Familie dürfen wir frei erkunden und wie Max Zimmer ist auch Seans Reich mit so vielen Postern zugekleistert und die Regale mit so vielen Figuren und anderen Erinnerungsstücken zugestellt, dass man für einige Minuten beschäftigt ist, sich alles anzusehen. Musik spielte in LIS eine wichtige Rolle. Konnte man in Max’ CD-Player noch aus unterschiedlichen Musikstücken auswählen, die sich allesamt in unser Gedächtnis gebrannt haben, dröhnt aus Seans Boxen ausschließlich “On The Flip Of A Coin” von der englischen Alternative-Hip-Hop-Musikgruppe The Streets. Den Auftakt, in dem “Lisztomania” von der französischen Kult-Indie-Pop-Band Phoenix abgefeuert wird, dürfen wir nicht unerwähnt lassen.

Doch auch im späteren Verlauf bietet Life Is Strange 2 bereits in Episode 1 eine Menge Freiheiten. Wir dürfen einen riesigen Park erkunden und der spielbare Bereich wird sinnvoll von Sturmschäden eingeschränkt. Währenddessen “dürfen” wir die unentwegten Fragen unseres kleinen Bruders beantworten und mit der Schultertaste sogar nach ihm rufen, wenn er außer Sichtweite gelaufen ist. Nervige Szenen wie die ikonische Kaufhausszene in Heavy Rain erwarten euch allerdings nicht. Die Bedienung ist so eingängig wie im ersten Teil. Wir bewegen uns in der 3D-Umgebung mit dem linken Analog-Stick und wählen mit dem rechten Stick Interaktionspunkte an, um klassische Adventure-Befehle wie “ansehen”, “reden” oder “benutzen” mit den Aktionsknöpfen des Controllers auszuführen. Neu ist die Möglichkeit an blau umrandeten Ankerpunkten mit Daniel zu interagieren. Das reicht von Witzeleien über Warnschilder im Park über das Verschieben eines Baumstammes zur Sicherung des nächtlichen Unterschlupfes bis hin zum Spielen am Greifautomaten in einer Tankstelle. Dieses Element ist zwar optional, doch Daniel wächst uns so sehr ans Herz, dass wir den üblichen “Ansehen”-Befehl über die Y-Taste ad acta legen und uns beim Durchstöbern der reichhaltigen Spielwelt auf die blauen Symbole konzentrieren.

Greifautomat? Keine Angst, Life Is Strange 2 mutiert nicht zu einem Yakuza-Spiel. Das Minispiel ist allerdings eine schöne Abwechslung, auch wenn man sparsam mit den geringen finanziellen Reserven umgehen sollte. Was passiert, wenn man zu viele Anläufe benötigt, seht ihr in unserem Let’s Play (siehe Einbindung unten).

Wir verfügen auch über ein Inventar, das diesmal über einen Rucksack etwas plastischer dargestellt wird. Seans Rucksack dürfen wir mit gefundenen Stickern individualisieren. Erstaunlich ist dabei, was alles in solch einen Rucksack reinpasst, das grenzt dann teilweise an Unrealismus. Eine wirkliche Verwendung für das Inventar und auch für das Schnellinventar, dass wir ohne den Spielbildschirm zu verlassen verwenden können, finden Adventure-Spieler hingegen nicht. Stattdessen dient es bei unserem Einkauf an der Tankstelle als virtueller Warenkorb. Das ist ein nette Gimmick, Rätselfüchse dürften sich allerdings eine sinnvollere Einbindung dieses Elements wünschen.

Wie Max in Life Is Strange führt auch Sean ein Tagebuch, allerdings verarbeitet er das Erlebte nicht in Form von klassischen Texteinträgen, sondern zeichnet die relevanten Motive. Damit füllt er bereits in Episode 1 ein gutes Dutzend Seiten. Dadurch in die Gedankenwelt des Protagonisten einzutauchen erweitert unser Verständnis des Charakters.

Entscheidungen spielen auch in Life Is Strange 2 eine wichtige Rolle. Es stehen euch meist drei bis vier Dialogoptionen zur Auswahl, zwischen denen ihr in einem meist fair bemessenen Zeitlimit entscheiden könnt. Die Darstellung eines kleinen bzw. großen Wolfes verrät euch, in welchem Sinne ihr gerade gehandelt habt, für den kleinen Bruder oder euch selbst. Besondersbedeutsame Entscheidungen präsentiert das Spiel in einem Splitscreen und das Geschehen friert in diesen Momente ein, ähnlich wie schon in der ersten Staffel von The Walking Dead vom ehemaligen Mitbewerber Telltale Games. Da bislang nur eine Folge erhältlich ist, können wir naturgemäß nicht beurteilen, welchen Einfluss diese Entscheidungen wirklich auf den Fortgang der Geschichte haben. In Life Is Strange haben wir uns oft in scheinbar ausweglosen Situationen wiedergefunden, die eine richtige Wahl gar nicht möglich zu machen scheinen. Life Is Strange 2 knüpft daran an und versetzt euch in Lagen, aus denen ihr schleunigst entkommen wollt und die Qual der Wahl aufgrund der Entscheidungsmöglichkeiten umso größer ist.

Mit einer Spielzeit von circa 3,5 Stunden bietet Life Is Strange 2: Episode 1 eine Menge Umfang, ohne dabei das Gefühl zu vermitteln, in die Länge gezogen zu sein.

Technik

Wie eingangs erwähnt haben wir Life Is Strange 2: Episode 1 auf der Xbox One X durchgespielt. Das Spiel läuft auf dieser Konsole nativ in der 4K-Auflösung 3.840×2.160 und behält größtenteils eine flüssige Bildwiederholungsrate von 30 Bildern pro Sekunde bei. In manchen Abschnitten, in denen sehr viele Objekte im Blick sind – etwa im Wald -, bricht die Framerate etwas ein. Wie in Life Is Strange setzt Dontnod statt Fotorealismus auf einen comichaften überwiegend farbenfrohen Stil. Die Figuren bestehen trotzdem über einen enormen Detailreichtum, die Animationen sind bis auf ein paar Ausnahmen, in denen sich Fehler in Zwischensequenzen einschleichen und Charaktere unbegründet Zitteranfälle erleiden, flüssig und die Hintergründe sind durch die gelungenen Lichteffekte so schön, dass Life Is Strange 2 in Kombination mit der cineastischen Präsentation atemberaubende Szenen auf den Fernseher zaubert. Die Gesichtsanimationen und die Lippensynchronisation sind nach wie vor verbesserungswürdig. Mit etwas mehr emotionaler Ausdrucksstärke der Charaktere wären einige Szenen noch mitreißender.

Die Qualität der englischen Synchronsprecher ist durchwegs sehr hoch. Gonzalo Martin (Sean) und Roman Dean George (Daniel) hat man zwei sehr talentierte Sprecher verpflichtet, die sowohl in Englisch als auch in manchen spanischen Szenen überzeugen. Die deutsche Synchro können wir nicht bewerten, werden dies aber in der nächsten Episode nachholen. Die musikalische Untermalung stammt wieder von Jonathan Morali, besser bekannt als Syd Matters, dessen “Obstacles” aus dem ersten Teil wir immer noch im Ohr haben. Der Soundtrack ist unaufdringlich, gefühlvoll und trägt einen großen Teil zur dichten Atmosphäre bei. Die lizenzierten Songs von Phoenix, The Streets und Bloc Party unterstützen die Stimmung der jeweiligen Szene, in der sie eingesetzt werden.

Let’s Play: Life Is Strange 2 in 4K

Fazit

Life Is Strange 2: Episode 1 ist ein gelungener Start in eine neue eigenständige Geschichte innerhalb des vor mehr als drei Jahren geschaffenen LIS-Kosmos. Wir kommen nicht darum herum, die Einflüsse von Dontnods 3D-Adventures nach wie vor bei Telltale Games zu sehen. Die Entscheidung, auf einen lateinamerikanischen Cast zu setzen, scheint etwas von der dritten Staffel von Telltales The Walking Dead (XTgamer-Test) inspiriert worden zu sein. Dontnod ist allerdings reflektiert genug, um das in kleinen auflockernden Szenen zu thematisieren, ohne dass Spieler, die sich damit nicht sonderlich befassen, aus der Spielwelt gerissen werden. Life Is Strange 2 gelingt es, dass mir das tragische Schicksal der beiden Diaz-Brüder zu Herzen gegangen ist. Grundlage dafür sind Charaktere aus Fleisch und Blut. Klar verfügen hier Figuren über Superkräfte, doch die Emotionen, die sie durchlaufen, sind nachvollziehbar. Der Teenager und das Kind sind auch als solche geschrieben worden und es sind eben keine Superkinder mit der Gedankenwelt eines 35-Jährigen. Life Is Strange 2 schafft es abermals mich in Situationen zu versetzen, aus denen ich schleunigst entkommen will und in denen ich das für mich kleinere von zwei Übeln wählen muss. Darüber hinaus ist die Folge im Anbetracht aktueller episodenhafter Spiele erstaunlich umfangreich und bietet einen guten Einblick in das, was uns in zukünftigen Episoden erwarten wird. Einen Erscheinungstermin der vier verbleibenden Episoden gibt es derzeit noch nicht.